In den letzten Tagen stand das Thema Noten im Mittelpunkt der medialen Schuldebatte. Anlass hierfür war ein Entwurf des SPÖ-geführten Bildungsministeriums zum Schulrechtspaket, der dem Koalitionspartner ÖVP übermittelt - und auch diversen Medien zugespielt - wurde. (Mir liegt dieser leider nicht vor!) Offenbar sollen hinkünftig in den ersten drei Jahren der Volksschule schriftliche Semester- bzw. Jahresinformationen und Bewertungsgespräche Ziffernnoten ersetzen - und das Wiederholen dieser Klassen der Vergangenheit angehören.
Die Empörung über diesen Vorstoß ließ nicht lange auf sich warten. Dadurch ginge die Vergleichbarkeit der Leistungen sowie die Leistungsorientierung in der Volksschule überhaupt verloren, würde einer Kuschelpädagogik Vorschub geleistet, wäre ein Unterricht beinah unmöglich und der Bildungsstandort Österreich gefährdet etc. (Vielleicht etwas überzeichnet?)
Gleichgültig auf welche Seite Sie sich schlagen, halten Sie erst einmal inne. DENN: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es kaum einen Aspekt rund um Schulnoten, der noch nicht (und größtenteils bereits seit Jahrzehnten) völlig ausgeleuchtet ist. Auf der Grundlage dessen lassen sich einige Mythen und falsche Hoffnungen als solche kenntlich machen.
Ohne Noten wird nicht gelernt!
Jenseits der Schule lernen Heranwachsende und Erwachsene in aller Regel bewusst und unbewusst, aus eigenem Interesse oder angeregt durch andere, gezielt oder nebenbei - ohne dafür Noten zu erhalten. Vergleichsstudien (PISA etc.) haben überdies gezeigt, dass es Schulsysteme gibt, die die ersten 8 Schuljahre auf Ziffernnoten verzichten und sich "trotzdem" mit unserem mehr als messen können. (Um es mal freundlich auszudrücken.)
Sind Noten in der Schule jedoch etabliert, sind sie offenbar der Dreh- und Angelpunkt der schulischen Lernanstrengungen. Noten nötigen zum Lernen. Durch zahlreiche Studien ist belegt: Am meisten wird in jenen Fächern gelernt, in denen die Schüler/innen die schlechtesten Noten haben. Wir wissen warum. Leider stimmt aber auch die Umkehrung dessen. Dort, wo am meisten gelernt wird, erhalten die Schüler/innen ihre schlechtesten Noten. Merkwürdig? Es macht deutlich, dass es in der Schule primär darum geht, sich an den eigenen Schwächen abzuarbeiten, Fehler vermeiden zu lernen.
Noten geben Rückmeldung über das Wissen und Können!
Wird unterschiedlichen Lehrer/innen ein und dieselbe Schularbeit zur Beurteilung vorgelegt, so wird sie in aller Regel unterschiedlich beurteilt. Oftmals untersucht, zeigt sich stets das gleiche Ergebnis - übrigens relativ gleichgültig um welches Unterrichtsfach es sich handelt. Die Noten streuen nicht nur zwischen zwei Notengraden, sondern zumeist wird das gesamte Notenspektrum ausgeschöpft. Wie schwer Fehler im Gesamtkontext der Schularbeit wiegen, ist keine ausgemachte Sache, sondern höchst subjektiv. Noten geben somit nicht Rückmeldung darüber, wie gut oder schlecht ein/e Schüler/in eine bestimmte Sache beherrscht, sondern wie gut oder schlecht sie eine bestimmte Sache in der Einschätzung einer bestimmten Lehrer/in beherrscht. Das ist ein großer Unterschied. Noten suggerieren Objektivität, wo keine ist.
Noten machen Leistungen vergleichbar!
Allerdings ist der Vergleichsraum recht bescheiden: nämlich die jeweilige Schulklasse. Das einzige, was Noten halbwegs verlässlich zum Ausdruck bringen, ist, welche Schüler/innen im Vergleich zu ihren Mitschüler/innen in der betreffenden Schulklasse bessere oder schlechtere Leistungen abliefern. Insofern, aber auch nur insoweit, können Noten Orientierung geben. Es lassen sich jedoch so gut wie keine Relationen zu Schüler/innen andere Schulklassen herstellen. Dieselbe Leistung in einer anderen Klasse kann dort zu derselben Note führen, zu einer besseren, aber auch zu einer schlechteren - je nachdem wie sich die Leistung in das Leistungsspektrum dieser Klasse einfügt (selbst wenn dieselbe Lehrer/in beurteilt). Klingt ungerecht!? Ist es auch!
Eine Klassenwiederholung (Sitzenbleiben) hilft, Versäumtes nachzuholen und sich zu verbessern!
Ein derartiger Effekt ist sehr selten. Dauernde Misserfolgserlebnisse, die einer Klassenwiederholung in aller Regel vorangehen, führen ungleich häufiger zu einer sehr änderungsresistenten Selbsteinschätzung. Die Betroffenen integrieren die wiederkehrend negativen Beurteilungen in ihr Selbstbild und arrangieren sich so offenbar mit ihrem vermeintlichen (Schul)Schicksal.
Verbale Beurteilungen sind aussagekräftiger als Ziffernnoten!
Solange Lehrer/innen jederzeit in der Lage sein müssen, ihre verbale Beurteilung auf Anfrage in Ziffernnoten übersetzen zu können, laufen die verbalen Beurteilungen Gefahr, zu Stehsätzen und Standardformulierungen zu verkommen. Damit werden sie jedoch nicht dem Anspruch gerecht, eine inhaltlich detaillierte, den Leistungen entsprechend differenzierte Rückmeldung zu geben. Schulleistungen mit Ziffernnoten zu beurteilen, und eine differenzierte und detaillierte Rückmeldung zu geben, sind gegensätzliche Denkbewegungen. Abstrahieren und Differenzieren zugleich, damit wird in aller Regel der Bogen überspannt.
Mit Abschaffung der Ziffernnoten wird alles anders!
Die Hoffnungen oder Befürchtungen, die offensichtlich mit der Abschaffung der Ziffernnoten für die ersten drei Schuljahre einhergehen, sind überzogen. Ziffernnoten sind in Österreich in den ersten beiden Schuljahren mittlerweile eher die Ausnahme als die Regel. Dass mit einem zusätzlichen, Ziffernnoten freiem Schuljahr ein Ruck durch die Schullandschaft gehen sollte, ist mehr als unwahrscheinlich. Die Schule ist eine über Jahrhunderte etablierte Institution, die nur durch einen multidimensionalen Ansatz flächendeckend und nachhaltig verändert werden kann. Zur Freude der Bewahrer/innen, zum Leidwesen der Reformer/innen.